Gesichtsanalyse

face2Die Physiognomie*, auch Gesichtsanalyse oder Gesichtslehre genannt, war bereits vor über 2000 Jahren im antiken Griechenland bekannt. Legendäre Pioniere der Medizin und Wissenschaft wie z.B. Hippokrates sahen in ihr eine Möglichkeit aus dem Gesicht einer Person etwas über deren Befindlichkeit, Gesundheit oder Erkrankungen zu erfahren.

Noch älter sind Funde aus dem alten China, die darauf beweisen, dass auch dort Formen der Physiognomie gelehrt wurden. Die chinesische Lehre wird als Siang Mien bezeichnet.
Da sowohl die Griechen wie auch die Chinesen zu den richtungsweisenden Hochkulturen der Geschichte zählen, ist davon auszugehen, dass die Gesichtsanalyse auch in anderen Teilen der antiken Welt praktiziert wurde.
Über die Jahrhunderte und schließlich Jahrtausende geriet sie jedoch in den meisten Teilen der Welt beinahe in Vergessenheit und führte zunehmend ein Schattendasein im Lichte der modernen Naturwissenschaften.
Da die Physiognomie nicht alle Ansprüche einer akademischen Naturwissenschaft erfüllen kann, gilt sie bei vielen Gelehrten anderer Fachrichtungen häufig als Humbug und Scharlatanerie.
So wird sie häufig als Pseudo-Wissenschaft bezeichnet und ihre Vertreter belächelt und schlimmstenfalls als Betrüger gebrandmarkt.

Generell unterscheidet man drei Richtungen der Gesichtsanalyse, welche sich in Teilbereichen überschneiden, ansonsten jedoch eigenständige Lehren sind:

Der medizinische Zweig, auch Antlitzdiagnostik genannt, kann aus dem Gesicht eines Menschen Rückschlüsse auf seinen Gesundheitszustand ablesen. Dabei sollen nicht nur Ursachen für akute Beschwerden ermittelt werden, sondern auch Anfälligkeiten und Neigungen zu gewissen Erkrankungen, so dass der Patient weiß, worauf er Zeit seines Lebens achten sollte, um gesund zu bleiben. In Teilen von Asien und besonders in Indien gibt es auch heute noch viele Ärzte, die ihre Diagnosen auf Resultate aus dem Betrachten des Gesichts stützen. In der westlichen Welt steht man dieser Praxis zwar skeptisch gegenüber, doch auch dort kann niemand verleugnen, dass sich Krankheit ab einem gewissen Grad im Gesicht einer Person bemerkbar macht und man schwer kranken Menschen ihr Leiden ansieht.

Der weitaus umstrittenere Bereich der Physiognomie zielt darauf ab, aus den Gesichtszügen eines Menschen Rückschlüsse auf dessen Charakter und Verhalten zu ziehen.
Dieser wird auch als Physiognomik bezeichnet und gilt unter anerkannten Akademikern als mittelalterlicher Aberglaube und Pseudowissenschaft.
Auf fast jedem Jahrmarkt und jeder Kirmes im retrofuturistischen Amerika findet sich ein Schausteller, der vorgibt, er könne das Schicksal und die Zukunft seiner Kunden aus ihren Gesichtern lesen. Zumeist handelt es sich um harmlose Betrüger, die hier und da mal etwas über Physiognomie aufgeschnappt haben und nun leichtes Geld mit gutgläubigen Besuchern machen.
Wer sich langjährig und tiefgreifend mit der Thematik der Physiognomik auseinander gesetzt hat, wer die Schriften und Lehren der alten Meister studiert hat, der hat es aufgrund seiner „Kollegen“ vom fahrenden Volk schwer, ernstgenommen zu werden.
Darüber hinaus widerstrebt es den meisten Menschen zu glauben, man können Ihre Stärken und vor allem auch ihre Schwächen von Angesicht zu Angesicht erkennen. Ergebnisse aus der Analyse eines Gesichtes bleiben eine Frage des Glaubens und  würden daher auch nie als Beweis vor Gericht gelten. Das Argument, der Angeklagte hätte die typische Visage eines Mörders oder Diebes wäre geradezu grotesk und würde lediglich die Verzweiflung der Anklage offenbaren, die keine sonstigen Beweise vorzubringen hat. Selbst überzeugte Anhänger der Physiognomik wissen, dass auch ein Gesicht täuschen und trügen kann. Es mag zwar eine 99% Trefferquote geben, doch absolute Gewissheit wird man durch eine Gesichtsanalyse nie erreichen, denn Ausnahmen gibt es wie überall auch dort.

Der jüngste Zweig der Physiognomie befasst sich mit der Mimik.
Obwohl es noch kaum verwertbare Daten gibt, existiert bereits eine kleine Anzahl an vielversprechenden Studien, die nahelegen, dass es bestimmte Verhaltensmuster gibt, die nahezu bei allen Menschen identisch sind. Eine Lüge im Gespräch wird fast immer von verräterischen Veränderungen in Mimik und Gestik begleitet. Wer weiß, worauf er zu achten hat, verbessert seine Chancen bei der Beurteilung über den Gehalt von Wahrheit, Echtheit und Authentizität der Worte seines Gegenübers enorm.

Obwohl die Physiognomie im New York des ausgehenden 19. Jahrhundert als verrufen gilt und kaum jemand öffentlich zugeben würde, auch nur ansatzweise daran zu glauben, holen sich dennoch viele New Yorker Bürger heimlich Rat. Es ist ein offenes Geheimnis der Oberschicht, an wessen Türe man klopfen muss. Ein prunkvolles Schild gibt irgendeine Tätigkeit vor, die über alle Zweifel erhaben ist und bloß als Fassade für das eigentliche Geschäft dient. Oftmals sind es junge Frauen, die dem vermeintlichen Experten Photogramme ihres Schwarmes oder zukünftigen Gatten vorlegen und sich so Gewissheit über seine Beziehungstauglichkeit erhoffen. Natürlich verschweigt der selbsternannte Gesichtsanalytiker im Regelfall, dass man auf Grundlage eines zumeist unscharfen Photogrammes nur schwer zu Ergebnissen gelangt, da es lediglich eine starre Momentaufnahme darstellt.

In diesem Umfeld wagen es nur die Mutigsten, ihre Dienste offen und ohne Tarnung anzubieten. Von ihnen gibt es nur eine Handvoll im ganzen Stadtgebiet von New York. Sie sind die einzigen in ihrem Metier, die die physiognomischen Lehren studiert haben, Referenzen und Zeugnisse vorweisen können und weniger an einem schnellen Dollar als an der Wissenschaft selbst interessiert sind.
Für jede der drei Ausrichtungen gibt es Experten. Am zahlreichsten sind noch die Mediziner, bei denen es sich oft um Migranten aus Indien handelt, gefolgt von den Physiognomikern. Am seltensten sind jene, welche die Mimik lesen und deuten können.
In ganz New York gibt es nur zwei Personen, die alle Arten der Gesichtsanalyse beherrschen. Der Begründer dieses alten Wissens als moderne Wissenschaft, Clark Hunter, und sein Schüler: Remy Lafayette.

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*Dieser Text ist in großen Teilen fiktiv, nicht wissenschaftlich und an die Gegebenheiten der retrofuturistischen Welt, in der sich die Floodlands befinden, angepasst. Wer sich für die Lehre der Physiognomie interessiert, möge sich bei seriösen Quellen informieren. Eine sehr gute erste Anlaufstelle bietet der erfahrene Gesichtleser Erik Standop, der die Academy of Face Reading gründete.